Mit spitzer Feder …
Meine beiden Schwestern – Zwillinge – sind meine coolen und wunderbaren Freundinnen, damit meine ich: bodenständig, geerdet, pragmatisch – kurz und bündig aussergewöhnlich lebenstauglich. Ich bin auch cool und wunderbar, aber einfach anders. Meine Bodenhaftung ist nicht ganz so stark, ich schwebe ab und zu durch die Welt, träume viel und habe eine rege Fantasie. Sie sind durchaus auch empfindsam und empathisch, aber mit wenige stark ausschlagendem Pendel. Ich höre auf mein Bauchgefühl und reagiere wie ein Seismograph auf Emotionen, Gefühle und meine Umgebung. Wir sind gleich aufgewachsen, doch war mein Leben immer irgendwie komplizierter und von einer Ernsthaftigkeit und Tiefgründigkeit begleitet, während die Zwillinge die Dinge leichter nahmen. So haben meine jüngeren Schwestern mich, die ich sieben Jahre älter bin, getröstet und beschützt. Charakteristisch sind auch unsere verschiedenen Liebesbeziehungen. Beide Schwestern haben sich in tolle Männer verliebt, geheiratet und führen eine stabile und glückliche Beziehung mit je zwei kleinen Jungs. Ich hatte immer das Talent mich kompliziert zu verlieben und dann in einer toxischen Beziehung viel zu lange auszuharren bis mein Körper schmerzlich Alarm schlug. Es kommt mir vor, als ob meine Empfindungen durch einen Verstärker gehen, im Positiven wie auch im Negativen. Oft frage ich mich – warum manche Menschen natürlicherweise «robuster» scheinen als andere, weniger stark von den Ereignissen des Lebens hin- und hergeworfen. Aber eben auch weniger empfindlich für die Feinheiten und tiefgründigen Details, die das Leben so spannend und reich machen.
Ich musste über 40 Jahre alt werden, bis ich entdeckte, dass es eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt: die «Sensory Processing Sensitivity», umgangssprachlich auch «Hochsensibilität» genannt. Hochsensibilität oder Hochsensivität beschreibt besonders feine Wahrnehmungen von Sinneseindrücken und Empfindungen – auch von Mitmenschen, die oft zu einer Überforderung oder Überreizung führt. Erstmals beschrieben wurde «highly sensitive persons» HSP 1997 von der US-amerikanischen Psychotherapeutin Elaine Aron, die auch einen Test zur Feststellung von Hochsensibilität entwickelte. Wie viele Menschen als hochsensibel zu bezeichnen sind, ist umstritten – während zum Teil von bis zu 25 Prozent der Weltbevölkerung ausgegangen wird, liegen realistischere Schätzungen bei etwa 1 bis 3 Prozent. Ich hatte eine wohl behütete und glückliche Kindheit. In der Schulzeit war es nicht immer einfach für mich: ich war scheu, ängstlich und zurückhaltend und schwamm schon sehr früh gegen den Strom: Ausgehen, Party feiern, in Discos abtanzen oder mit Freundinnen um die Blöcke ziehen, waren gar nicht mein Ding. Ich zog es vor, zu lesen, mich mit Themen wie Literatur, Kultur oder Natur zu befassen, Museen zu besuchen, Ballett zu tanzen oder mehrheitlich klassische Musik zu hören. Lange in Gesellschaft am Tisch zu sitzen – und sei es in Mutters Stube – lärmige Gesellschaften – und mochte ich mein Gegenüber noch so sehr – waren für mich immer anstrengend – denn ich musste diese Eindrücke immer alle genaustens unter die Lupe nehmen, verarbeiten und dann richtig versorgen beziehungsweise einordnen. Ich habe ein hervorragendes Gedächtnis und beherrsche das Multitasking aus dem Effeff. Oftmals habe ich das Gefühl, dass mein Körper, mein Geist und meine Seele unmittelbar miteinander verknüpft und vernetzt sind – eine Herausforderung!
Vom Moment an, als ich akzeptierte, dass ich mehr Ruhe und Zeit für mich brauche als andere und nicht immer vor dieser Erkenntnis davonliefe und gegen meine Natur auf Achse war, ging es mir besser. Dabei spricht mir die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk aus dem Herzen, wenn sie schreibt: «Ich hatte schon seit Längerem zu viel Welt um mich herum. Zu viel zu schnell, zu laut.» Da kam mir die Pandemie, die unser lautes Leben stoppte und entschleunigte, genau richtig. Wenn man der Empfindsamkeit erst einmal Raum gibt, den sie braucht, entpuppt sie sich als wunderbares Geschenk. Ich würde sogar sagen, es ist ein Privileg, so durch das Leben gleiten zu dürfen mit einem besonderen Sinn für Ästhetik, als gute Zuhörerin und Beobachterin und bei mir mit zusätzlich noch einer Ader für Hellsichtigkeit und einem Zugang zur dünnstofflichen Welt. So kann man Neues schaffen und Dinge zum Vorschein bringen, die sonst im Verborgenen geblieben wären. In diesem Sinn kann ein Fluch auch ein Segen sein, eine Herausforderung, eine Chance. Wir, ob hochsensibel oder nicht, erleben das immer wieder in unserem Leben. Wir sollten viel mehr unsere Schwächen zu Stärken umwandeln – ein prägendes Erlebnis, das unser Leben nur besser macht und bereichert.
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin